Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie

Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie

Organisatoren
Interdisziplinärer Arbeitskreis für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Frankfurt an der Oder
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.07.2013 - 25.07.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Maximilian Schochow/ Saskia Gehrmann, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Auf Einladung des Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland trafen sich vom 24. bis 25. Juli 2013 internationale Wissenschaftler(innen), um sich über ethische Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie auszutauschen. Dabei wurden Themenfelder wie die Selbstbestimmung der Patient(inn)en und die sich daraus ergebenden zentralen Probleme der Einwilligungsunfähigkeit eines Menschen ebenso diskutiert, wie ethische Fragestellungen, die im Kontext einer Zwangsbehandlung stehen. Thema waren außerdem die Arzt-Patient-Beziehung im psychotherapeutischen Setting sowie ethische Probleme im Rahmen therapeutischer Möglichkeiten bei therapierefraktären klinischen Bildern. Darüber hinaus wurden grundlegende therapeutischen Konzepte bzw. theoretische Entwürfe im Hinblick auf ihren ethischen Gehalt befragt.

Grundlage für den Beitrag von SIGRID GRAUMANN (Bochum) war die Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin (ZEKO), an der sie federführend mitgearbeitet hatte. Dieses Gutachten nahm sie zum Anlass, um über Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie zu sprechen. Zunächst gab Graumann einen Überblick zur historischen Entwicklung der Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie. Anschließend sprach sie über ethische Probleme im Zusammenhang mit Behandlungen unter Zwang und diskutierte ethische Kriterien für die Zulässigkeit von Zwang in der Psychiatrie. Als Ursachen für das häufige Auftreten von Zwangsmaßnahmen benannte die Referentin strukturelle Missstände innerhalb der psychiatrischen Einrichtungen, die dem Prinzip der Patientenselbstbestimmung zuwider laufen. Zwangsbehandlungen seien, so Graumann, als Ultima Ratio zulässig.

Über Odysseus-Verträge und tiefe Hirnstimulation sprach KARSTEN WITT (Köln). Odysseus-Verträge sind eine spezielle Art der Patientenverfügung, die festlegen, dass Behandlungspräferenzen, die im Zustand einer Entscheidungsunfähigkeit geäußert werden, nicht zu beachten seien. Eine solche Entscheidungsunfähigkeit könnte im Fall einer tiefen Hirnstimulation bei Parkinson-Patient(inn)en auftreten. Anhand verschiedener Fallbeispiele stellte Witt damit verbundene ethische Probleme vor und diskutierte die Frage, welcher Willensäußerung der Patient(inn)en gefolgt werden müsse: der Aussage vor oder nach der tiefen Hirnstimulation. Es sei der Willen der Patient(inn)en ausschlaggebend, der vor der Stimulation dokumentiert wurde, so Witt. Entscheidend dabei seien der Ausdruck der individuellen Lebensführung innerhalb einer solchen Patientenverfügung, das Identifizieren der Patient(inn)en mit der eigenen Zukunft und somit der personalen Selbstbestimmung.

Das Leben und Werk des polnischen Psychiaters Antoni Kępiński (1918-1972) wurde von ANNA ALICHNIEWICZ (Łódź) vorgestellt. Die Referentin skizzierte Kępińskis Grundideen zur Psychiatrie und zeichnete seine Ideen sowohl strukturell als auch inhaltlich nach. Nach Kępiński, der einen psychiatrischen Skeptizismus vertrat, führen Umwelteinflüsse und genetische Dispositionen zu psychischen Erkrankungen. Daher sei Abnormalität nicht einfach mit einer psychischen Krankheit zu identifizieren und Normalität nicht mit mentaler Gesundheit gleichzusetzen. Kępińskis Theorie zufolge sei der Mensch als ein System zu verstehen, das Umweltreize aufnimmt und verarbeitet. Somit tausche der menschliche Organismus beständig Energien und Informationen mit seiner Umwelt aus. Dieses Konzept wird als informationeller Metabolismus bezeichnet. Infolge dieses Austauschprozesses käme es zu psychischen und mentalen Erkrankungen.

Über die ethische Basis von Antoni Kępińskis Theorie der Psychiatrie sprach PAWEŁ ŁUKÓW (Warszawa); Kępińskis Psychiatrie sei medizinische Philosophie. Als Vertreter der philosophischen Anthropologie habe er menschliche Handlungen als von den Trieben zur Selbsterhaltung und zur Fortpflanzung bestimmt begriffen. Die Ursachen psychischer Krankheiten lägen demzufolge in Gewalt und Frustration. Nach Kępiński sei die Heilung der menschlichen Seele nur auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Theorie möglich, welche durch eine ethische Praxis fundiert ist. Der Therapeut dürfe seine Patient(inn)en nicht bevormunden und müsse sich als Philosoph und Moralist begreifen. Daraus sei Kępińskis therapeutisches Programm erwachsen, welches Gesundheit auch als moralische Gesundheit begreife. Allerdings habe Kępiński keineswegs versucht, die Natur zu moralisieren.

Den ärztlich assistierten Suizid und die damit einhergehenden ethischen Probleme standen im Mittelpunkt des Vortrags von AXEL KARENBERG (Köln). Die Beihilfe zur Selbsttötung entspreche nicht dem ärztlichen Ethos und sei nicht Aufgabe der behandelnden Ärzte. Während in Deutschland eine rechtliche Liberalisierung unter anderem vom Deutschen Ethikrat zurückgewiesen wurde, seien in anderen Ländern gesetzliche Sterbehilferegelungen in Kraft getreten. Karenberg untersuchte die Argumente, welche einen ärztlich assistierten Suizid durch Beschaffung des tödlichen Medikaments bei psychisch kranken Patient(inn)en ethisch rechtfertigen könnten. Dabei unterschied er zwischen historischen, prinzipiellen und pragmatischen Argumenten und ging auf die vier medizinethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress ein. Ein weiteres ethisches Konfliktfeld bilde die Rolle des Arztes, der die Medikamente beschafft, mit denen sich der Patient selbst tötet. Hierbei sei schwer einzuschätzen, inwiefern der Arzt als Beihelfer zum Suizid betrachtet werden könne.

Am zweiten Tag der Tagung analysierte ANDRZEJ KANIOWSKI (Łódź) die Wirkung des geltenden Rechts auf psychisch Erkrankte. Um dieses Problem zu erörtern, nahm er vor allem Bezug auf die Theorie des polnischen Psychiaters Antoni Kępiński. Nach Kępiński seien Gesetze als Umweltreize zu verstehen, auf welche die menschliche Psyche reagiere. Unter Berücksichtigung dieser Annahme wurden die Auswirkungen rechtlicher Regelungen auf die Psyche der von ihnen betroffenen Patient(inn)en diskutiert. Die zentrale Wirkung sah Kaniowski darin, dass sie Gefühle von Wut und Verängstigung bei den Patient(inn)en hervorrufen würden. Daran anknüpfend sprach Kaniowski über verschiedene Formen von Angst und unterschied dabei anhand einer Klassifikation von Kępiński unter anderem zwischen neurotischer, depressiver und psychoorganischer Angst. Schließlich diskutierte der Referent die Frage, unter welchen Umständen Gesetze eine angstauslösende Wirkung hätten.

Mit Patientenverfügungen in besonderen Lebenslagen setzte sich ARND MAY (Halle-Wittenberg) auseinander. Ausgehend von der Definition der Patientenverfügung als einer schriftlichen Festlegung des Willens eines einwilligungsfähigen und volljährigen Patienten, ging er auf Patientenverfügungen im Rahmen psychischer Erkrankungen ein. Inhalte der Willensäußerungen seien in diesem Fall häufig Therapieablehnungen, die Festlegung von Maximaldosen oder der maximalen Behandlungsdauer. Ähnlich wie Karsten Witt im Fall von Odysseus-Verträgen kam May auf das Zeit-Distanz-Problem zu sprechen. Am Beispiel identitäts- bzw. bewusstseinsverändernder Medikamente fragte May nach der Verbindung zwischen der Person, welche die Patientenverfügung aufgesetzt habe und derjenigen, auf welche diese Patientenverfügung letztendlich angewendet wird. Aus dieser Frage resultierten weitere Probleme – beispielsweise die Abwägung zwischen Patientenselbstbestimmung und dem Grundrecht auf eine medizinische Behandlung.

Ethische Fragen in der Gerontopsychiatrie thematisierte THOMAS REUSTER (Görlitz/Dresden). Auch in diesem Beitrag lag der Fokus auf der Selbstbestimmung der Patient(inn)en. Reuster ging es um die formalen Voraussetzungen der Patientenselbstbestimmung angesichts psychischer Krankheiten. In der Praxis sei die Einwilligungsfähigkeit der Patient(inn)en oft schwer zu ermitteln. Folglich bestünde die Tendenz, über den Kopf der Betroffenen hinweg zu entscheiden. Dabei sei es gerade in der psychiatrischen Praxis wichtig, dass einerseits die Patientenselbstbestimmung respektiert werde. Andererseits müsse aber die Selbstbestimmung mit dem Schutz des Patienten vor irrationalen Entscheidungen verbunden sein. Dies sei wesentlich für die Gerontopsychiatrie. Reuster forderte dazu auf, die strukturelle und materielle Situation in der Gerontopsychiatrie zu verbessern, um mehr Raum für die Wahrung der Patientenselbstbestimmung zu schaffen.

Ethische Konfliktpotenziale im Rahmen der Psychotherapie und somit auch der Kunsttherapie standen im Mittelpunkt des Vortrags von FLORIAN STEGER (Halle-Wittenberg). An zwei konkreten Fallbeispielen – der Vergabe eines Therapieplatzes und dem Problem der sexuellen Identität – diskutierte Steger die Therapeut-Patient-Beziehung. Um Konflikte zu vermeiden, sei es für Therapeuten von Bedeutung, die eigenen Wertvorstellungen zu reflektieren und diese streng von denen des Patienten zu trennen. Folglich sei die ethische Kompetenz des Therapeuten ausschlaggebend für eine erfolgreiche Therapie. Die Kunsttherapie habe eigene ethische Problemstellungen und verlange ein besonderes Maß an Transparenz und Sensibilität gegenüber den Patient(inn)en. So habe das Ausstellen von Patientenarbeiten möglicherweise einen negativen Einfluss auf den therapeutischen Prozess. Arbeiten, die im Rahmen der Kunsttherapie entstehen, seien Spiegelbilder der Seele der Betroffenen und sollten mit besonderer Sensibilität behandelt werden.

ELŻBIETA MATUSZEWSKA (Warszawa) sprach über die Therapeut-Patient-Beziehung am Beispiel der Psychotherapie. Dabei stand vor allem die Rolle der Therapeut(inn)en im Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Ausgangspunkt waren ebenfalls die Arbeiten von Antoni Kępiński, die Matuszewska mit dem Ansatz des amerikanischen Psychologen Carl Rogers (1902–1987) zusammenbrachte. Die Theorien von Kępiński und Rogers würden sich in der gemeinsamen Annahme überschneiden, dass der Therapeut nur mit einer humanistischen Einstellung etwas über den Patienten, sein Umfeld und schließlich über sich selbst erfahren würde. Diese humanistische Ausrichtung der Psychotherapie von Kępiński und Rogers wirke als Gegenentwurf zur Psychoanalyse und zum Behaviorismus. Allerdings sei es laut Kępiński für den Therapeuten schwierig, eine humanistische Einstellung einzunehmen, da die Bedingungen der modernen Psychiatrie diese Einstellung kaum ermöglichten.

Die Tagung schloss mit einem Beitrag über den Psychotherapeuten als Ethiker. Die Referentin KATARZYNA MARCHEWKA (Kraków) betonte, dass der therapeutische Prozess ein wissenschaftlicher sei und die Patient(inn)en in jedem Fall beeinflusse. Dieser Einfluss könne falsch, angemessen oder ideal sein. In jedem Fall seien die Patient(inn)en mit Respekt zu behandeln. Der Arzt solle sich primär als Philosoph begreifen und sich keinesfalls in ein asymmetrisches oder hierarchisches Verhältnis zu den Patient(inn)en begeben. Die Psychotherapie sei eine zwischenmenschliche Beziehung mit einem ethischen Charakter, in der dem Dialog eine große Rolle beigemessen werde. Das Prinzip des Patientenwohls bestimme die Therapeut-Patient-Beziehung. Das oberste Ziel einer therapeutischen Beziehung sei die Wiederherstellung der mentalen Gesundheit der Patient(inn)en.

Die Tagungsbeiträge sensibilisierten für zahlreiche ethische Konflikte in Psychiatrie und Psychotherapie, welche sich häufig aus dem Widerstreiten medizinethischer Prinzipien wie der Patientenselbstbestimmung und dem psychiatrischen Alltag ergeben. In den Diskussionen wurde deutlich, dass in dieses Spannungsfeld vor allem die Therapeut-Patient-Beziehung hineinspielt, die von den Referent(inn)en durchgängig thematisiert wurde. In diesem Zusammenhang wurde regelmäßig auf die Arbeiten des polnischen Psychiaters Antoni Kępiński Bezug genommen. Die Schriften des bisher in Deutschland weitgehend unbekannten Kępiński befassen sich sowohl mit dem Selbstverständnis von Therapeut(inn)en als auch mit Vorstellungen von psychischer Gesundheit und Krankheit. Damit wurde ein Impuls zur weiteren Auseinandersetzung mit dem polnischen Psychiater in Deutschland gegeben. Ebenso bestand Konsens darüber, dass in der psychiatrischen Praxis sowohl strukturell als auch materiell Reformbedarf bestehe, damit die Selbstbestimmung der Patient(inn)en zunehmend respektiert werden kann. Denn obwohl die vier medizinethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress auch auf die Psychiatrie und Psychotherapie übertragen worden sind, weist der psychiatrische Alltag bei deren Umsetzung häufig noch Defizite auf. Dank der finanziellen Förderung der Tagung durch die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung (DPWS) werden die Beiträge der Tagung in einem Tagungsband publiziert.1

Konferenzübersicht:

Grußwort des Präsidenten der Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder Dr. Gunter Pleuger

Eröffnung der Tagung

Prof. Dr. Jan C. Joerden, Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Ethik der Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder
Prof. Dr. Andrzej M. Kaniowski, Lehrstuhl für Ethik am Institut für Philosophie der Universität Łódź
Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Sektion I

Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann (Bochum): Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie
PD Dr. Thomas Reuster (Görlitz/Dresden): Ethik in der Gerontopsychiatrie
Dr. Anna Alichniewicz (Łódź): A. Kępiński’s Approach to Psychiatry – The Structure Of Basic Ideas
Prof. Dr. Paweł Łuków (Warszawa): The ethical basis of A. Kępiński’s psychiatry
Prof. Dr. Axel Karenberg (Köln): Der (ärztlich) assistierte Suizid

Sektion II

Prof. Dr. Andrzej Kaniowski (Łódź): Recht als Quelle von Angst und Wut bzw. Depression
Dr. Arnd May (Halle-Wittenberg): Patientenverfügungen in besonderen Lebenslagen – zwischen Kontinuität und Diskontinuität des Willens
Dr. Karsten Witt (Köln): Ich will so bleiben wie ich bin. Odysseus-Verträge und tiefe Hirnstimulation

Sektion III

Prof. Dr. Florian Steger (Halle-Wittenberg): Ethik in der Psychotherapie unter berücksichtigung der Kunsttherapie
Mgr. Elżbieta Matuszewska (Warszawa): Directivity in psychotherapy and ethics of the client-therapist relationship
Mgr. Katarzyna Marchewka (Kraków): Psychotherapist as ethicist

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Weitere Informationen, Termine und Publikationen, die im Rahmen des Arbeitskreises entstanden sind, können auf der Homepage des Interdisziplinären Arbeitskreises für Ethik in der Medizin in Polen und Deutschland abgerufen werden: <http://blogs.urz.uni-halle.de/medizinethik/> (12.09.2013).


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